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Champions League – Die neue Kuhn-Orgel (2021) der Tonhalle Zürich
Champions League – Die neue Kuhn-Orgel (2021) der Tonhalle Zürich
Orgel des Monats März 2022

Die neue grosse Kuhn-Orgel der aufwendig renovierten, und somit im «alten» Glanz neu erstrahlenden Tonhalle in Zürich spielt ganz vorne mit in der illustren Reihe der in den letzten Jahren entstandenen Konzertsaalorgeln ersten Ranges. Zusätzlich gilt: «Was lange währt wird endlich gut» – oder: wie sich aus einem Orgelstandort gleich drei Orgeln entwickeln und die Musikwelt in unterschiedlichster Art und Weise bereichern.

 

Paradigmenwechsel und geänderte klangliche Erkenntnisse im Konzertsaalorgelbau

Die Entwicklung, der Bau und die Konzeption grosser Konzertsaalorgeln unterlagen in den vergangenen zwanzig Jahren des begonnenen 21. Jahrhunderts einem grundlegenden Paradigmenwechsel weg von der blossen «Kirchenorgel» im Konzertsaal – hin zu einer tiefgreifenden Rückbesinnung auf die Ursprünge grosser symphonisch-romantischer Konzertsaalorgeln des Neunzehnten sowie des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts.

Spielte seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts noch bis spät in die 1990er Jahre hinein die neoklassische und neobarocke Ästhetik der sogenannte «Orgelbewegung» auch bei der Konzeption von Konzertsaalorgeln eine entscheidende Rolle, was sich zum Beispiel in der Übertragung von «Kirchenorgel»-Dispositionen mit neobarockem Werkprinzip in die Konzertsäle dieser Welt äusserte, so führte in den letzten Jahren die intensive Beschäftigung mit der Musik der Romantik und Spätromantik, aber auch die Forderung nach neuen modernen und avantgardistischen Ausdrucksmöglichkeiten zu einem ganz neuen veränderten Typus der Konzertsaalorgel. Diese soll sich dem grossen Symphonieorchester als ebenbürtige Partnerin in allen möglichen Schattierungen vom ppp zum fff an die Seite stellen, muss aber andererseits als grosses Konzertinstrument für Sololiteratur – und gleichfalls für die, gerade für den Konzertsaal so geeignete Kunst der Orgeltranskription vielfältigste orchestrale und symphonische Klangfarben bereithalten.

Restaurierung und gleichzeitig Neubeginn in der Tonhalle

Bei der langjährigen und umfangreichen Renovation und Restaurierung des weltberühmten und für seine grandiose Akustik geschätzten grossen Tonhallesaals stand die Orgelfrage, neben der Wiederherstellung der originalen «Fin de siécle»-Optik als eine der zentralen «Baustellen» an herausragender Stelle. Mehrere Szenarien und Lösungen wurden intensiv erwogen und überlegt.

 

Aufgrund der umfassenden grossen Restaurierung des Saales liess es sich nicht umgehen, das vorhandene Kleuker-Steinmeyer-Instrument von 1987/88 vollständig auszubauen und einzulagern. Drei Lösungen wurden dabei von den zuständigen Gremien sorgfältig konzeptionell und finanziell abgewogen:

 

A) Abbau, Einlagerung und Wiederaufbau der Kleuker-Steinmeyer-Orgel in unveränderter Art und Weise mit normaler Reinigung, Wartung und Stimmung.

 

B) Zusätzlich zu A): Behebung und Verbesserung der konstruktionsbedingt dringenden Störungen und vorhandenen Defizite im Bereich Technik (Traktur) und Infrastruktur (Schwellkasten).

 

C) Vollständiger Neubau der Tonhalle-Orgel mit entsprechender Translozierung des alten Instruments an einen neuen geeigneten Standort.

 

Letztendlich entschied man sich für den radikalen Weg eines kompletten Neuanfangs, da die beiden infrage kommenden Varianten B) und C) finanziell unter strengen ökonomischen und logistischen Kriterien relativ nahe beieinander lagen und A) und B) den berechtigten und langjährig gehegten Wunsch des Orchesters nach mehr Platz und die Rückverlagerung des gesamten Orgelkörpers in die rückwärtige Orgelnische nicht zugelassen hätten.

Es konnte glücklicherweise mit der Baugarten Stiftung Zürich ein finanzstarker Mäzen für den vollständigen Neubau des Tonhalle-Instruments gefunden werden, wie auch infolge ein passender und angemessener neuer Standort für die von Jean Guillou nach seinen speziellen künstlerischen Richtlinien entworfene Kleuker-Steinmeyer-Orgel.

(Dass bei der Translozierung der «Alten» Tonhalle-Orgel von 1988 in die Kathedrale des slowenischen Koper einerseits die Traktur umgebaut, wie auch der Schwellkasten des Schwellwerks komplett neu gebaut werden musste, spricht für die Seriösität und Plausibilität der unter A) bis C) erwogenen und evaluierten Varianten am Standort Zürich.

Pfeifen der Nasenflöte unter den Zierleisten; 2021 © Orgelbau Kuhn AG
Pfeifen der Nasenflöte unter den Zierleisten; 2021 © Orgelbau Kuhn AG

 

Win – Win – Win: gleich drei nutzniessende Institutionen

Bleibt zusammenfassend unter den Findungs- und Neukonzeptions-Prozess der Tonhalle-Restaurierungsmassnahmen für mich, der alle drei Instrumente intensiv kennenlernen durfte – 1990 die beeindruckende Begegnung mit Jean Guillou und der Kleuker-Steinmeyer-Orgel; während des Studiums dann die Neumünster-Orgel und schliesslich im Sommer 2021 die beglückende Begegnung mit der neuen Kuhn-Orgel – eine glückliche Bemerkung:

 

Durch die in den letzten 35 Jahren vonstattengegangenen orgelbaulichen Massnahmen der Tonhalle Zürich sind letzten Endes drei Instrumente ähnlicher Grösse aber vollkommen unterschiedlicher Konzeption entstanden, die an ihrem «neuen» oder «alten» Ort ihre jeweilige Aufgabe vollziehen.

 

  1. Die Kleuker-Steinmeyer-Orgel von 1988, nun in der Kathedrale von Koper mit ihrer kathedralhaften Akustik, in der die speziellen Farben (zahlreiche Flûtes harmoniques, entlegene Obertöne, Oboe-en-chamade etc.) des von Jean Guillou entworfenen Konzepts besser zur Entfaltung kommen als in einem Konzertsaal.
  2. Die 1995 aus Teilen der alten Kuhn-Tonhalle-Orgel neu entstandene Neumünster-Orgel mit romantischem Konzept und zahlreichen historisch wertvollen Registern.
  3. Die neue Kuhn-Orgel der Tonhalle (2021), als nach den neuesten Erkenntnissen des Konzertsaalorgelbaues konzipierte ebenbürtige Partnerin des Orchesters, als bewegliche und anpassbare Begleiterin von Chören und Solisten und als grosses und vielfältiges symphonisches Instrument für Sololiteratur und Orgeltranskriptionen.

 

Das Alte bewahren, mit Neuem nicht sparen

Bei der vollständigen Neukonzeption der Tonhalle-Orgel standen mehrere Bedingungen und Wünsche der Betreibergesellschaft sowie des Orchesters im Vordergrund. Die neue Optik des Instrumentes sollte dem restaurierten historischen Erscheinungsbild Rechnung tragen, wobei die Orgel insgesamt zurück in die Orgelnische musste. Das Tonhalle-Orchester brauchte für seine Perkussions- und Blechblasinstrumente mehr Platz, weswegen die Orgel keinen Raum mehr im hinteren Orchesterpodium beanspruchen durfte. Das neue Klangkonzept sollte sich an oben genanntem Paradigmenwechsel einer symphonisch-orchestralen Klanglichkeit orientieren, die weniger Konzepte des Kirchenorgelbaus in den Konzertsaal zu transferieren sucht, als vielmehr die ursprüngliche Konzertsaalorgelästhetik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (auch der beiden ursprünglichen alten Tonhalle-Orgeln von Kuhn) in ihren gelungensten Ausprägungen in Deutschland, Frankreich und England widerspiegeln, und welche die besten und bewährtesten Elemente dieser Ausprägungen mit den Forderungen der klassischen Orgelliteratur zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zufriedenstellend in einem modernen, auch für zeitgenössische Musik und Ausdrucksformen geeigneten Instrument vereint, um dabei ein Instrument mit vielfältigen Begleit- und Solomöglichkeiten zu schaffen.

Der Prospekt wurde – nachdem auch zwei moderne Varianten diskutiert worden waren – in einem mehrstufigen Konzeptionsverfahren an die wiederhergestellte historische Optik mit ihrem prachtvollen Gepräge des Fin de siecle angepasst.

 

Grosse Dynamik und agile Mobilität

Um im Zusammenspiel den dynamischen Anpassungsmöglichkeiten an den vielfältigen Klang des Tonhalle-Orchesters gerecht zu werden, und um ein vielfältiges Begleitinstrument auch für Chöre und die unterschiedlichsten Solisten bereitzustellen, sind – im Vergleich zum Vorgängerinstrument mit nur einem Schwellwerk – gleich drei der vier Manualwerke schwellbar im jeweils eigenen effektiven Schwellkasten untergebracht. Die charakteristischen Hochdruckstimmen des 4. Manualwerks (Solowerks) haben zusätzlich eine Schallabsorptionkammer, welche sich innen beim Schliessen des Schwellers öffnet, und so die Obertonstärke beeinflusst und die Solostimmen vielfältiger verwendbar macht. Somit kann z.B. die fanfarenartige schiere Kraft der drei Hochdruckzungenstimmen zu einem fernen Grollen gezähmt werden, was beeindruckende und dramatische Effekte ermöglicht.

Um Platz für das Orchester zu gewinnen, wurde auf mechanische Tontraktur und einen zusätzlichen mechanischen Spieltisch im Unterbau des Gehäuses verzichtet, und eine moderne, verzögerungsfreie elektrische Traktur mit mobilem Spieltisch auf der Bühne gebaut. Bei diesem Spieltisch wurde bewusst auf Eleganz und Ergonomie geachtet, und auf leichte und schnelle Bedienbarkeit Wert gelegt – auch und gerade für Gastorganisten, welche sich unter Umständen rasch zurechtfinden müssen. Nach reiflicher Überlegung wurde dieser Spieltisch drei- anstatt viermanualig eingerichtet, und das vierte Manualwerk (Solo) als sogenannte «floating division» (= frei koppelbares Werk) konzipiert, das unabhängig auf jedem der drei Manuale und Pedal spielbar ist. Hierdurch benötigt der Spieltisch weniger Platz auf dem Orchesterpodium und der Blickkontakt zum Dirigierenden oder zu anderen Mitmusizierenden ist für den Spieler/die Spielerin optimiert.

 

Aufbau und Struktur

Dabei befinden sich im Orgelboden die acht Magazinbälge, darüber in Höhe des Orchesterpodiums und der Musizierenden das schwellbare Orchesterwerk – inklusive der sieben Orchesterpedal-Transmissionen für leiseste anpassungsfähige Bässe – und das grosse Récit-Schwellwerk. Dahinter in der Nische befinden sich die Laden mit den grossen vollbechrigen 16’-Zungen und das Grosspedal mit den grössten Pfeifen des Pedalprincipal 16’, des Untersatz 32’ und der Kontraposaune 32’, alles jeweils in C/Cis-Teilung. Auf der zweiten Ebene findet sich das Hauptwerk, dahinter das Kleinpedal (beides in C/Cis geteilt) und mittig hinter dem Hauptwerk und zwischen den Kleinpedalladen der grosse Solowerk-Schweller. Diese Werke sprechen vorteilhaft über die klangreflektierende Deckenmuschel nach vorne effektiv aus.

 

Hauptwerk – Vielseitige Basis und Grundlage

Das Hauptwerk vorne auf der zweiten Etage bietet mit 17 Registern einen üppigen Registerfundus, um das Rückgrat der Orgel zu bilden. Der komplett bis unten offene Principal 16’ befindet sich im Prospekt und spricht von dort samtweich aber gravitätisch-sonor in den Raum. Der Principalchor ist vollständig ausgebaut bis zu den zwei Mixturen, sodass jeweils ein tiefes Plenum auf 16’ (mit Mixtur major) oder ein helleres und leichtes Plenum auf 8’-Basis (mit Mixtur minor) – oder gar ein ganz grosses Plenum mit beiden Mixturen zusammen – gewählt werden kann. Principalchor und Mixturen sind so intoniert, dass sie zwar hell und füllend sind, jedoch nie schreiend oder aufdringlich wirken. Gemeinsam mit den beiden Zungen zu 16’ (ebenfalls in voller Länge ausgebaut) und 8’ (plus eventuell dem Cornet 5f.) bildet sich ein grandioser Tutti-Klang bereits mit den Registern des Hauptwerks, der durch verschiedenste Abschattierungen einen würdigen Forte-Gegenpart zum Orchesterklang darstellt. Üppig besetzt der Flötenchor mit der solistisch-kapriziösen Doppelflöte 8’, der trichterförmigen Flauto dolce 8’ mit leisem und streichenden Charakter, sowie einer zwischen diesen beiden vermittelnden Flauto 8’, ist auch die 8’-Flötenlage in piano, mezzoforte und forte-Schattierung vorhanden, ergänzt um eine charmante Rohrflöte 4’ und gekrönt vom leuchtenden Cornet, welches jedoch auch gemeinsam mit der Mixtur major ein dunkles deutsch-romantsiches Labial-Plenum zu krönen vermag. Ergänzt werden die Labialregister durch gleich zwei Streicher, eine Gambe 8’ und die helle Fugara 4’, was im Labial-Bereich mannigfaltige Kombinationen erlaubt.

Zu bemerken ist insgesamt im Vergleich zur Vorgänger-Orgel, der Reichtum an verschiedenartigen 8’- und 4’-Labialstimmen, die auch im Zusammenspiel, bei der Begleitung von Chören und Solisten und im Continuo-Spiel unendlich viele, auch zarteste, Nuancen erlauben.

Hauptwerk – Cornet 5-fach – © 2021 – Michael Reinhard

 

Orchesterwerk – Wichtigstes Begleitwerk und Deutsch-Romantischer Farbkasten

Das Orchesterwerk befindet sich, schaut man zur Bühne, links vom Betrachter auf der unteren Ebene der Orgel und steht mit dem rechts davon liegenden Récit auf gleicher Höhe. Beide Werke besitzen jeweils vier Teil-Laden und sind beide schwellbar. Somit befinden sich allein auf Höhe des Orchesters und der Musizierenden (Chöre) insgesamt zusammen 35 Register in den beiden unteren Schwellwerken, die dynamisch an das Geschehen im Orchester oder im Chor feinstufig angepasst werden können, noch ergänzt um die sieben Pedal-Transmissionen aus dem II. Manual – also 7 (!) zusätzlich frei wählbare schwellbare Pedalregister. Dies erlaubt eine grösstmögliche Flexibilität im Zusammenspiel mit dem Orchester, was auch eine der Anforderungen an das neue Instrument war. Das Orchesterwerk basiert in der 16’-Lage sowohl auf einem runden Lieblich Gedackt wie auch auf einem wunderbar gesanglichen Salicetbass 16’, der mit dem Salicional 8’ kombiniert ist. In diesem Werk ist der Streicherchor besonders ausgebaut, mit Stimmen in 16’, 8’ und 4’-Lage, gekrönt von einer milden aber farbig-glutvollen Harmonia aetherea (inklusive Septime).

Blick ins Orchesterwerk mit Orchesterklarinette und Waldhorn; (c) 2021 - Orgelbau Kuhn AG
Blick ins Orchesterwerk mit Orchesterklarinette und Waldhorn; ©2021 – Orgelbau Kuhn AG

Der Streicherchor kann noch durch Sub- und Superkoppeln gesteigert werden, sowie mit der dunkel leuchtenden Unda maris 8’ zu mystisch-spärischen Klängen gewandelt werden. Interessant ist in weiterer Steigerung oder Abwandlung die Einfärbung des üppigen Streicherchores mit den beiden durchschlagenden Zungen oder dem herrlich-dunklen Waldhorn 8’. Als Principalregister steht der Geigenprincipal 8’ zur Verfügung, der durch die Violine 4’ aufgehellt, und mit der Harmonia aetherea zum milden Plenum gekrönt werden kann, welche durch die Superkoppel jedoch noch zusätzliche Brillanz erhalten kann. Auch hier zwei 8’-Flöten: Gedeckt 8’ und die still-murmelnde Wienerflöte 8’ – eine Hommage an die allererste Orgel der Tonhalle aus dem 19. Jahrhundert: das leiseste Register der Orgel, welches durch die Unda maris dunkel-schwebende Akkordwolken zu erzeugen vermag. Auch hier interessant die Einfärbung durch die durchschlagenden Zungen oder das wunderbare Horn 8’. Der Flötenchor wird vervollständigt durch eine herrliche Flauto 4’ und die dezent leuchtende Waldflöte, zum Cornet décomposée ergänzbar mit Nasat 2 2/3’ und Terz 1 3/5’, und bekrönt vom charmant-glitzernden Piccolo 1’, womit mannigfaltige Aliquotmischungen möglich sind. Vermisste man einen 1 1/3’, so kann entweder durch oktaviertes Spielen (die Klaviatur ist mit 61 Tönen bis c4 ausgebaut) des Nasat 2 2/3’ oder durch die Superkoppel Ersatz geschaffen werden. Ebenso ist es möglich, mit den frei programmierbaren Koppeln und den Aliquotregistern weitere ungeradzahlige Obertöne wie Septime, None, Elfte oder Tredezime zu erhalten. Herrlich die bereits erwähnten durchschlagenden Zungen Aeoline 16’ und Physharmonika 8’ in der Tradition eines Walcker/Ladegast/Haas – für deutsch-romantische Musik unentbehrlich, für französische Symphonik und «Champs-elysees-Feeling» wünschenswert! Angenehm auffallend die beiden dunklen «Orchesterzungen»: die aufschlagende Orchesterklarinette 8’ mit abgedunkeltem aber wesentlich vornehmerem Cromorne-Charakter und das wirklich unbeschreiblich schöne Waldhorn 8’ mit geschlossenen Drehdeckelbechern, das eine weiche und sonore, aber besonders vielfältig-mischungsfähige Horn-Note, aber auch Gravität einbringt.

 

Récit expressif – Französisches Kraftpaket und Mystik

Das III. Manual, rechts hinter dem Orchesterpodium, ist in der Tradition der französisch-symphonischen Schwellwerke eines Aristide Cavaille-Coll gehalten und hält andererseits auch die Farben für die Musik eines Langlais, Messiaen oder Duruflé bereit. Basierend auf einem eher dunkel-dezent grundierenden Quintaton 16’, ist mit Diapason 8’, Prestant 4’, Doublette 2’ und Quinte 2 2/3’ bis zum dezent-leuchtenden Plein-Jeu 4-fach ein komplett schwellbarer Principalchor vorhanden, der den «typischen» Orgel-Principalklang in Lautstärke und Intensität maximal anpassbar an das Orchester macht, ergänzbar in 16’-Lage mit dem Quintaton 16’ oder mit den Zungen zu 16’ und 8’ zum «Full Swell»-Klang. Mit den überblasenden Flöten 8’ und 4’, sowie dem dezenten Cor de nuit 8’ ist der Flötenchor gut vertreten – und kann noch durch die Superkoppel aufgehellt werden. Auch im Récit ein zerlegter 5-facher Cornet, unterschiedlich in Klang und Farbe zu den beiden Kornetten der beiden anderen Manuale. Mit Quintaton 16’ und Quinte 2 2/3’ oder Quintaton 16’, Flûte 4’ und Tierce 1 3/5’ sind typische Farbregistrierungen eines Oliver Messiaen darstellbar. Die helle und kräftige Viole de Gambe und die Voix céleste 8’ bringen schimmerndes Streicherkolorit, das ebenso durch Sub- oder Superkoppel angereichert werden kann. Im Zungenbereich bietet der dunkle Basson 16’ die notwendige Grundierung, die mit den Trompettes harmoniques zu 8’ und 4’ glanzvoll aufregistriert, oder mit der kecken Hautbois 8’ moderat zum mezzoforte ergänzt wird. Die Voix humaine 8’ bringt samt Tremolo die typisch Gallische Mystik eines Franck, Langlais oder Tournemire.

 

Manual- Blick ins grosse Schwellwerk; (c) 2021 - Michael Reinhard
Manual- Blick ins grosse Schwellwerk; ©2021 – Michael Reinhard

 

Solowerk – Vielseitige Klangsteigerung und kapriziöse Solisten

Im frei zuordbaren Solowerk mit seiner oben erwähnten Schallabsorptionskammer finden sich drei wunderbare Labial-Solisten: die von Orgelbau Kuhn erfundene (Osnabrück Dom, Freiburg Münster) und hiermit erstmals in einer Schweizer Orgel eingebaute «Flauto turicensis 8’» (Zürcherflöte) mit einzigartigem Rundlabium, als charakteristische glockige Soloflöte, die aber durch die Schwellwirkung ins Piano abdriften kann, ein tuckernder Doppelbourdon 8’, wie die HW-Doppelflöte mit zwei Labien versehen, und die kräftige und sägende Stentorgambe 8’ (diese alle drei auf Hockdruck), die durch die Zähmung mit dem Schwellwerk zum Cello mutiert. Diese drei Hochdrucklabiale werden noch ergänzt durch eine herrliche durchschlagende Clarinette 8’ mit eigenem Windschweller, welche in Art der Expression des Kunstharmoniums bis ins Nichts verschwinden kann. Dramatisch orchestral dann für die grössten Steigerungen die beiden Solozungen: die eher englisch gefärbte dunklere Tuba (spielbar sowohl in 16’ Lage als Tuba Felix, als auch in 8’-Lage als Tuba Regula) – eine Hommage an die beiden Zürcher Stadt-Heiligen. Diese können einzeln oder zusammen gegen das komplette Orgelplenum oder Tutti dialogisierend in Widerstreit treten, oder in typisch englischen Tuba-Tunes als Solostimme gegen eine «Full Swell»-Registrierung oder das HW mit 8’4’2’ gespielt werden. Durch den effektiven Schweller können diese jedoch auch als Klangkrönung in mehreren Stufen zum Rest der Orgel hinzutreten und in der gewünschten Intensität reguliert werden.

Als weitere flamboyante und fanfarenartige Steigerung steht die hellere, klanglich chamadenähnliche Trompette orchestrale 8’ als wohl kräftigste Solozunge der Orgel zur Verfügung: eine wahre Klang-Krone! Ein interessanter Effekt ergibt sich, wenn man Tuba 8’ und Trompette orchestrale 8’ zusammenkoppelt und durch den Schweller reguliert: hier ist dann sowohl Sonorität wie auch Helligkeit gleichzeitig vorhanden. Richtig und dezent eingesetzt bilden diese Hochdruckzungen ein hervorragendes und durch den Schweller vielseitiges dramatisches Steigerungsmittel, wie es so in dieser Art wohl nur von grossen britischen Kathedralorgeln bekannt und beliebt sein dürfte. Als besondere kreative Effektregister stehen im Solowerk die glockenspielartigen Crotales zur Verfügung, bei welchen metallene runde Klangscheiben mit Klöppeln angeschlagen werden. Dieser Glockenspiel-Effekt kann auch durch vorprogrammierbare Klangfolgen zusätzlich als «Zimbelstern-Effekt» genutzt werden. Das zweite Effektregister ist – wie die Zürichflöte – eine eigene Erfindung aus dem Hause Kuhn, hervorgegangen aus einem firmeninternen kreativen Ideenwettbewerb, bei dem es darum ging, ein möglichst attraktives «Signatur-Register» als Geschenk des Hauses Kuhn für dieses bedeutende und international ausstrahlende Glanzprojekt zu finden: als «Sieger» hervor ging die Idee einer in den unteren Sims des Orgelprospektes vollkommen unauffällig eingebauten «Nasenflöte 4’», ähnlich dem gleichnamigen Instrument, welche in Vierteltönen gestimmt ist: über das erste Manual lassen sich die normalen Töne anspielen, auf dem zweiten Manual kommen für avantgardistische Effekte die Vierteltöne hinzu. Auch kann man vorab vorprogrammierbare Glissando-Effekte abrufen, was dem Ganzen noch eine heitere Note aufsetzt.

Solowerk- Tuba, Trompette orchestrale und Flauto turicensis; (c)2021 - Michael Reinhard
Solowerk- Tuba, Trompette orchestrale und Flauto turicensis; ©2021 – Michael Reinhard

 

Pedal – Grundlage, Gravität und Flexibilität

Das Pedal ist mit zwölf eigenständigen Registern schon einmal gut besetzt, Grundlage bilden die Principale von 16’ bis zum 4’. Zu diesen treten Flötenregister vom 32’ bis zum 8’ hinzu, von denen der präzis grundierende Untersatz 32’ besondere Erwähnung verdient: gemeinsam mit dem Pedalprincipal 16’ und den drei 16’-Langen Zungen steht er ja in der Nische hinter den beiden Schwellwerken und kann neben der Orgel und über das Gewölbe grossartig «aus der Tiefe» aussprechen, und verbindet sich so ausgesprochen grossartig mit den Schwellwerken im pianissimo, wie auch mitwachsend als Boden für ein Fortissimo. Bereits erwähnt – gemeinsam mit der HW-Bombarde 16’ die Extra-Lade mit den drei(!) vollbechrigen 16’-Zungen, wobei die Pedalbombarde 16’ den nötigen spektakulären «Wumms» für Französisches bringt, die Posaune 16’ sich dagegen rund und sonor ins Plenum mit einmischt – wichtig für die Plenum-Präludien und Fugen eines Johann Sebastian Bach oder für die deutsche Romantik. In der Tiefe abgerundet wird der vollständige Zungenchor noch durch die tiefen Töne der Kontrabombarde 32’, die gemeinsam mit dem Untersatz 32’ und dem Principalbass 16’ ein dramatisches Fundament für lange Orgelpunkte in Orchesterpassagen bilden. Und hier kommen wir nun zu den sieben Transmissionen aus dem Orchesterwerk (schwellbares II. Manual), welche diese 12-registrige «Grundausstattung» des Pedals mit einem dynamisch hochflexiblen «Orchesterpedal» ergänzen: war beim Vorgängerinstrument von Organisten oft geklagt worden, «man habe keine leisen Pedalregister», kann man nun das Pedal selbst in verschiedenen Pianissimo-Nuancen an das Orchester oder Chor anpassen – dies ganz ohne unnötige Koppelmanöver, die dann eines der Manuale belegen würden: die sieben Stimmen vom Salicettbass 16’ bis zu Aeoline 16’ und Waldhorn 8’ bereichern das Pedal in einer wünschenswerten Weise, so dass zum Beispiel fünf unterschiedliche 16’-Labialbässe und drei unterschiedlich starke 16’-Zungen zur Verfügung stehen. Und das wie gesagt vollkommen ohne Koppeln.

 

Spielhilfen – Neue Klangmöglichkeiten

Spieltisch Orgel Tonhalle; © 2021 - Michael Reinhard
Spieltisch Orgel Tonhalle; © 2021 – Michael Reinhard

An Spielhilfen stehen neben der umfangreichen Setzeranlage und mehrfach programmierbaren Crescendi zahlreiche moderne Sonderfunktionen wie Sostenuto (=angehaltene Töne oder Akkorde), Tasten- und Registerfessel, sämtliche Normalkoppeln (dazu Sub- und Superkoppeln, samt Manual-Absteller («unison off»)), frei programmierbare Koppeln (auch in Quint-/Quart- oder anderweitiger Lage (Sekunden/Septimen u.a.) zur Verfügung sowie Transposer.

Erweitert werden die modernen Möglichkeiten durch ein frei teilbares Pedal (Pedal divide bzw. Pedal split) und mehrere Winddrosseln, die jeweils manuell oder via Crescendotritt geregelt werden können. Ausserdem erweitern Loop-, Midi-Funktionen die Möglichkeiten (Anschluss externer Klangerzeuger und Synthesizer), desweiteren gibt es Glissando- und Viertelton-Funktion für die Nasenflöte und ein Tablett zur Aufnahme und Wiedergabe fürs Abhören im Saal, für Aufnahmen oder das «vierhändige Spiel mit sich selbst». Der Möglichkeiten sind viele – für die Umsetzung moderner Kompositionen ist hier ein weites kreatives Feld geschaffen worden, das es zu beackern gilt.

Detail Spieltisch Tonhalle; © 2021 – Michael Reinhard
Detail Spieltisch Tonhalle; © 2021 – Michael Reinhard

 

Zusammenfassung und persönlicher Eindruck

Meine ganz persönlichen Klangeindrücke sind – nach einem wunderbaren Sommerabend, an dem mir das Instrument ausgiebig zum individuellen Kennenlernen und Spielen, sowie zum probeweisen Begleiten eines Tenors in aller Ruhe zur Verfügung stand – somit genügend geäussert: kurzum, ich bin begeistert und hochenthusiastisch, was das Instrument in der Tonhalle und seine hoffentlich reichliche Nutzung in der Zukunft betrifft.

Meine Bedenken über den weiteren Verbleib der Kleuker-Steinmeyer-Orgel wurden zerstreut, da nun mit der Kathedrale von Koper ein würdiger neuer «Rahmen» für die «Jean-Guillou-Orgel» gefunden wurde. Die Tonhalle hat jedoch nun mit der neuen Kuhn-Orgel eine ausdrucksstarke wahrhafte Konzertsaalorgel erhalten, die sich bereits als grösstmöglich flexible Partnerin des Orchesters erweisen konnte, jedoch auch als vielfältiges Instrument für Solo- und Ensemblekonzerte bereitsteht.

 

Wie macht sich das neu entstandene Instrument nun auf dem «Orchesterpodium» in den Orchesterkonzerten zur Einweihung?

Diese mit Spannung erwartete Frage lässt sich aufgrund der Einweihungskonzerte im Rahmen der Orgeleinweihung im September nur mit «…Brilliant…!» beatworten. Der Live-Eindruck war überwältigend positiv: sowohl im grossen «Concerto da Requiem» von Guillaume Connesson (Jahrgang 1970), das – ohne Chor – die Thematik eines Requiems aufnimmt, und dabei doch eher in sinfonisch-mehrteiliger Form ein veritables Konzert für Orgel und grosses Orchester darstellt, und das in seinen drei Sätzen (I. Kyrie – II. Dies irae – III. Dona nobis pacem) die Orgel immer wieder mit dem oder gegen das Orchester agieren lässt. In seinen zahlreichen Orgeleinsätzen gesellen sich die Registerfarben der Orgel ebenbürtig zu den Farben des Orchesters hinzu, seien es Aliquotmischungen, die nur die Orgel hervorbringen kann, seien es Forte-Passagen oder leiseste mystische Akkorde auf der Voix celeste mit der Soloflöte.

Ganz andere Herangehensweise bei der «Dritten» Sinfonie von Camille Saint-Saens: hier ist die Orgel vielmehr integraler Bestandteil des Orchesters und tritt erst im zweiten Teil des ersten Satzes ganz mystisch aus der Ferne in Erscheinung: gelungen hier durch die Möglichkeiten der drei Schwellwerke und des schwellbaren Orchesterpedals kommt die Orgel aus dem Nichts und bietet doch gleichzeitig hie und da satte Pedalbässe im pianissimo an. Triumphal dagegen der Schluss-Satz, wo die Orgel in ihren Forte- und Fortissimo-Einwürfen zeigt, dass sie auch eine Königin sein kann, die sich nicht unterordnen möchte. Dennoch: gerade in den finalen Takten verschmilzt die neue Tonhalle-Orgel auch mit all ihrer Kraft homogen und gelungen in den Orchesterklang ohne im Fortissimo des Orchesterklanges unterzugehen oder unangenehm aus diesem herauszustechen – und der Solist des Abends, Prof. Christian Schmitt – erklärt mir verschmitzt lächelnd, dass es selbst am Schluss noch Klangreserve in der Orgel gehabt hätte («Es war gar nicht alles gezogen…») – eine Reserve, die Maestro Paavo Järvi bewusst nicht einsetzen liess: es hat auch so in positivster Weise gepasst und ausgereicht:

Triumphal. Phänomenal. Königlich und doch demokratisch. Wunderbar.

Ad multos annos!

 

Dokumentation

Kuhn-Orgel Tonhalle 1895
Kuhn-Orgel Tonhalle 1895

 

Kuhn-Orgel von 1927 (im Zustand von 1939)
Kuhn-Orgel von 1927 (im Zustand von 1939)

 

Kleuker:Steinmeyer-Orgel (1988) – (seit 2021 in der Kathedrale Koper)
Kleuker:Steinmeyer-Orgel (1988) – (seit 2021 in der Kathedrale Koper)

 

Neumünster-Orgel (Kuhn 1995 mit Teilen der alten Tonhalleorgel)
Neumünster-Orgel (Kuhn 1995 mit Teilen der alten Tonhalleorgel)

 

 

Links

https://www.orgelbau.ch/de/orgel-details/114680.html

https://www.orgelbau.ch/files/orgeldatenbank/orgeln/114680_d.pdf

https://www.youtube.com/channel/UClyj7C6MGlFg79FybSau9Bw

https://www.orgelbau.ch/files/orgeldatenbank/orgeln_downloads/114680_pdf7.pdf

 

Quellen

Die Orgel in der Tonhalle Zürich (Klang – Raum – Geschichte)

Herausgegeben von Lion Gallusser und Michael Meyer

Tonhalle-Gesellschaft Zürich AG & Orgelbau Kuhn AG

Programmheft zur Orgeleinweihung am 23. Und 24. September 2021

Tonhalle-Gesellschaft Zürich AG

Tonhalle-Orchester Zürich

Webseite Orgelbau Kuhn AG

Zahlreiche Gespräche mit Dieter Georg Utz,
Präsident des Verwaltungsrates der Orgelbau Kuhn AG

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Veröffentlicht von Thomas Haubrich
Thomas Haubrich, sprengt als Organist und Dirigent gerne Grenzen. Im Im thurgauischen Amriswil als Kirchenmusiker tätig, betreut er vielfach Orgelbauprojekte und gibt Konzerte im In- und Ausland.